Neue Entwicklungen in der MS-Diagnostik und Therapie

Die Diagnose Multiple Sklerose stellt für viele Betroffene eine emotionale und medizinische Zäsur dar – oft nach einer langen Phase der Ungewissheit. Neue diagnostische Verfahren, individualisierte Therapien und ein stärkeres Bewusstsein für die Rolle der Patient:innen in ihrer Behandlung verändern jedoch zunehmend den Umgang mit der Erkrankung. Wie diese Entwicklungen konkret aussehen, welche Hoffnungen sich daraus ableiten lassen und wo noch Herausforderungen bestehen, darüber haben wir mit Prof. Dr. Christoph Kleinschnitz, Direktor der Klinik für Neurologie am Universitätsklinikum Essen und einer der führenden MS-Experten in Deutschland, gesprochen.

Viele MS-Betroffene erleben lange Unsicherheiten bis zur Diagnose. Gibt es bald einfachere Bluttests, die diesen Prozess beschleunigen?

Ja, tatsächlich sind sogenannte Biomarker in der Entwicklung, insbesondere Bluttests. Ein Test ist bereits weit fortgeschritten – der sogenannte Neurofilament-Test. Neurofilamente sind Eiweißstoffe, die nur in Nervenzellen vorkommen. Wenn Nervenzellen im Gehirn beschädigt werden, wird dieses Eiweiß freigesetzt und kann mittlerweile mit sehr empfindlichen Nachweismethoden auch im Blut nachgewiesen werden.

Dieser Biomarker zeigt an, dass zum Beispiel bei MS eine Entzündungsaktivität vorliegt oder wie gut jemand auf bestimmte Therapien anspricht. Wenn eine Therapie wirkt, gehen in der Regel weniger Nervenzellen kaputt, was sich dann auch in einem niedrigeren Neurofilamentwert zeigt. Der Test ersetzt jedoch nicht andere diagnostische Verfahren wie die Kernspintomographie oder die Untersuchung des Nervenwassers, da er nicht spezifisch für MS ist – auch andere Erkrankungen können zu erhöhten Werten führen. Aber er ist ein wertvoller zusätzlicher Baustein in der Diagnostik. Der Test kann bereits eingesetzt werden und wird aktuell von großen Firmen kommerzialisiert.

Sie forschen zu Entzündungen bei MS. Was bedeutet das konkret für die Therapie?

MS ist eine Autoimmunerkrankung, bei der das Immunsystem körpereigene Strukturen im Gehirn und Rückenmark angreift. Entzündungen spielen dabei eine zentrale Rolle. Unser Ziel ist es, diese Entzündungsprozesse zu kontrollieren. Die heutigen Medikamente richten sich gezielt gegen das Immunsystem: Sie können entzündungsfördernde Zellen hemmen, zerstören oder daran hindern, ins Gehirn einzudringen. So lässt sich die Entzündung unterdrücken und das Immunsystem wieder ins Gleichgewicht bringen.

Wie können Hausärzte und Neurologen besser zusammenarbeiten, um Wartezeiten zu verkürzen?

Das ist nicht nur bei MS ein Problem, sondern betrifft viele neurologische Erkrankungen. Wichtig ist ein direkter Draht zwischen Hausärzt:innen und Neurolog:innen. Persönlicher Austausch, idealerweise in lokalen Netzwerken, funktioniert hier am besten. Die Ressourcen in den Praxen sind allerdings begrenzt, das muss auch politisch berücksichtigt werden.

Patient:innen wissen oft viel über ihre eigene MS. Wie kann dieses Wissen besser genutzt werden?

Das fällt unter den wichtigen Bereich des „Patient Empowerment“. Viele Betroffene informieren sich intensiv – meist über das Internet, aber auch über andere Quellen. Ärzt:innen sollten dieses Wissen ernst nehmen, empathisch zuhören und offen für alle Symptome sein – gerade bei sensiblen Themen wie Blasenstörungen oder Sexualfunktion. Auch die Nebenwirkungen von Therapien müssen ernst genommen und abgeklärt werden. Letztlich müssen wir das subjektive Erleben mit objektiven Befunden abgleichen und daraus den Handlungsbedarf ableiten.

Welche nicht-medikamentösen Maßnahmen helfen MS-Betroffenen wirklich?

Ein sehr wichtiger Bereich ist die symptomatische Therapie. An erster Stelle steht hier die neurologisch spezialisierte Physiotherapie, zum Beispiel zur Behandlung von Spastiken oder zur Sturzprävention. Auch Ergotherapie kann helfen, etwa bei Einschränkungen der Handfunktion. Darüber hinaus sind Reha-Maßnahmen – ambulant oder stationär – sehr wirksam, wenn sie bewilligt werden. Viele brauchen auch psychologische Unterstützung, etwa bei Depressionen oder kognitiven Einschränkungen. Und natürlich helfen auch Sport und gesunde Ernährung – hier gibt es tatsächlich Studien, die positive Effekte auf den Krankheitsverlauf zeigen.

MS-Patient:innen haben häufig weitere Autoimmunerkrankungen. Braucht es dafür mehr vernetzte Spezialisten?

Ja, das ist durchaus häufig. Das weist darauf hin, dass bei diesen Menschen das Immunsystem insgesamt eine Art „Bauplanfehler“ aufweist. Daher ist die Zusammenarbeit mit anderen Fachrichtungen – etwa bei Schuppenflechte, Diabetes oder rheumatischen Erkrankungen – enorm wichtig. In Unikliniken ist das meist einfacher, weil viele Fachbereiche unter einem Dach sind. Aber auch im ambulanten Bereich entstehen zunehmend spezialisierte Versorgungszentren und neue Abrechnungsformen wie die ambulante spezialärztliche Versorgung.

Was gibt Ihnen im Umgang mit MS-Patient:innen immer wieder Hoffnung?

Rückblickend ist es erstaunlich, wie weit wir gekommen sind. Wir verstehen die Erkrankung heute viel besser – sowohl, was das Immunsystem als auch das zentrale Nervensystem betrifft. Darauf aufbauend wurden viele wirksame Medikamente entwickelt, die es vielen Betroffenen ermöglichen, ein weitgehend normales Leben zu führen. In der Zukunft setzen wir große Hoffnung auf regenerative Therapien, also Behandlungen, die geschädigte Nerven wiederherstellen – durch Nervenwachstum oder Reparatur der Nervenhüllen. Erste Studien laufen bereits, und das stimmt mich sehr zuversichtlich.

Prof. Dr. med. Christoph Kleinschnitz
Direktor der Klinik für NeurologieUniversitätsklinikum Essen, Klinik für Neurologie