Die Geschichte von Fritz

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Wie verlief dein Weg von den ersten Symptomen bis zur Diagnosestellung deiner PPMS, einer nicht so häufig auftretenden Form der Multiplen Sklerose?

Das war ein langer Prozess, der im Jahr 2020 anfing, als ich merkte, dass ich ab und an steif werde in den Beinen und der linken Hüfte. Ich hatte Stechen im großen Zeh und das Treppensteigen wurde anstrengend. Aber es ging immer wieder mal besser. In dieser Zeit absolvierte ich noch die Prüfung zum Kranführer, Hubstapler- und Radlader-Fahrer, wofür ärztliche Untersuchung Pflicht sind. Aber zu diesem Zeitpunkt war ich gesund, gemäß Aussage des Arztes. Mir wurde neben Fahrradfahren (130 km im Monat), 10 000 Schritten im Tag gehen und regelmäßigem Dehnen empfohlen, zu einem Chiropraktiker zu gehen. Eine Verbesserung blieb aus.

Im September 2021 wurde ich dann an einen Schmerzmediziner weitergereicht und ein MRI erstellt, weil der Verdacht auf LWS (Lendenwirbelsyndrom) bestand. Durch diese Fehldiagnose wurde mir empfohlen, eine Infiltration zu machen. Aus einer wurden dann drei innerhalb von zwei Monaten mit insgesamt 15 Spritzen, was mir eine Gewichtszunahme von über 20 kg bescherte. Besser wurde es jedoch nicht. Schlussfolgerung vom Arzt: mehr bewegen und abnehmen.

Im Januar 2022 konnte ich am Morgen nicht mehr gehen und hatte hohes Fieber. In der Notaufnahme wurde Corona, Fieber und Schnupfen festgestellt. Es folgten fünf Tage in Isolation. Danach waren die Gehschwierigkeiten deutlich schlimmer. Der Schmerzmediziner gab meinem „nicht geimpft sein“ die Schuld und diagnostizierte „Long COVID“.

Nach langen Diskussionen wurde ich dann an meinen jetzigen Neurologen überwiesen, der umgehend den Verdacht MS äußerte. Die Abklärungen zogen sich hin. Zu dieser Zeit war es schwierig, Termine zu bekommen. Somit blieb viel Zeit für Spekulationen von Mitarbeitern, Vorgesetzten und der Familie.

Das hat mich psychisch an meine Grenzen gebracht. Gerüchte entstanden und viele Menschen aus meinem Umfeld distanzierten sich, was wir ja vom Lockdown schon kannten. Zu dieser Zeit wäre es mir egal gewesen, am nächsten Morgen nicht mehr aufzuwachen. Vier MRI und drei Lumbalpunktionen später bekam ich Anfang Juni 2022 dann die Bestätigung, dass ich PPMS habe.

Erinnerst du dich an den Moment, an dem du PPMS-Diagnose erhalten hast? Wie hat er sich angefühlt?

Wir saßen mit meiner Frau beim Neurologen und hatten beide keine Kenntnis über die Krankheit. Ich hatte mal eine Kundin, die davon betroffen war, aber das war schon alles. Mein großer Fehler war, dass ich Dr. Google konsultierte. Ergebnis: MS = Rollstuhl und dann folgt der Tod. Ich war in dieser Zeit dankbar für die Plattform «MS Schweiz», wo ich unzählige Fragen gestellt habe. Des Weiteren habe ich mich in den sozialen Medien über MS informiert, dabei viele wertvolle Menschen kennengelernt, die mir weitergeholfen haben, mir regelmäßig Mut zusprachen und mit denen ich mich austauschen konnte. Auch stand mir mein Neurologe bei Fragen mit seinem Fachwissen zur Seite. Sogar meine Mailanfragen wurden innerhalb eines Tages beantwortet.

Was ist der Unterschied zwischen MS und PPMS?

PPMS ist die seltene Form von MS. Sie verläuft ohne Schübe, aber mit einer schleichenden Verschlechterung. In der Schweiz gibt es ca. 1 800 Betroffene und wenige Behandlungsansätze.

War dir sofort klar, was die Diagnose für dich, deine Familie und dein Umfeld bedeutet?

Nein! Ich dachte, die Diagnose entspannt die Situation. Aber weit gefehlt. Mein Arbeitgeber war nicht erfreut, da ich schon vorher körperliche Probleme hatte und nun schon sechs Monate krankgeschrieben war – und das ohne Diagnose.

In den sechs Monaten hatte mein damaliger Arbeitgeber sich sehr distanziert, obwohl ich selbst offen kommunizierte. Aber es kam nie oder sehr selten ein Feedback. Das war auch der Grund für meine Teilnahme bei MS Schweiz „Gesicht des Monats“. Dadurch konnte ich die Gerüchte stoppen. Die von der IV (Invalidenversicherung) angebotene Unterstützung für den Arbeitsstellenerhalt wurde nicht angenommen. Ende November 2022 dann die Kündigung.

Bei der Familie sah es nicht besser aus. Seit Jahren war die Situation angespannt wegen diversen familiären Problemen, was sich durch Covid noch steigerte. Als war, als wenn noch nachgetreten würde, obwohl ich schon am Boden lag und die MS wurde verharmlost und teilweise beschönigt.

Es hat sich also einiges im Familien- und Freundeskreis verändert seit der Diagnose.

Oh ja. Es gab Menschen, die ich seit Jahren kannte, die den Kontakt abgebrochen haben. Die vorher schon schwierige Familiensituation wurde noch schwieriger. Und dann gab und gibt es da noch Freunde, die sich echt bemüht haben und zu mir stehen. Auch habe ich neue Menschen kennengelernt, die sich freuen, uns zu sehen oder verstehen, dass mein Alltag nicht immer planbar ist. Meine Frau und ich waren vorher schon ein großartiges Team, sind dadurch aber noch enger zusammengerückt.

Die Coronazeit hängt dir bis jetzt nach und war schwer für dich. Was hast du noch in Erinnerung und wie hast du Corona gemeistert?

Zurückblickend eine unmenschliche Zeit, die ich auch heute noch verarbeiten muss. Ich und meine Frau haben uns gegen das Impfen entschieden, haben uns an die Vorschriften gehalten. Wir haben nicht kritisiert, sondern das Geforderte erfüllt. Beide haben Covid mit Fieber und Schnupfen nach drei Tagen durchgehabt. Meine Familie und mein Arbeitgeber waren da anders eingestellt. Das Abwerten, wenn man doch schon unter körperliche Probleme leidet, hat mehr Spuren hinterlassen, als ich zugeben wollte. Ich habe vor wie auch nach der Diagnose viel einstecken müssen, so wie beispielsweise Vorwürfe von „selber schuld, du hättest dich impfen lassen müssen“.

Im Jahr 2022 war ich fast drei Monate in der REHA oder im Krankenhaus und stellte fest, dass es vielen von den Patienten und auch vom Pflegepersonal nicht besser ergangen ist. Wirklich eine schwierige Zeit!

Wie weit ist deine Autoimmunerkrankung fortgeschritten?

Ich habe Probleme mit Gehen und Treppensteigen, aber Dank Gehhilfen bin ich mobil. Spastiken im Rumpf und Beinen machen mir zu schaffen.

Wie siehst du deine Zukunft mit PPMS?

Das ist nicht vorhersehbar. Die Angst, nicht mehr mobil zu sein, ist immer im Kopf. Aber ich sage immer: Angst beginnt im Kopf. Mut auch. Gemäß regelmäßigen Tests bin ich seit 2022 stabil.

Autoimmunerkrankungen sind physisch und psychisch nicht leicht wegzustecken. Mit wem redest du über deine Ängste und Gefühle, damit es dir psychisch besser geht?

Mit meiner Frau. Aber für mich ist es ein schwierig. Ich bin in einer Zeit aufgewachsen, in der es kein Thema war, über psychische Probleme zu sprechen und schon gar nicht als Mann. Mittlerweile habe ich mir Hilfe gesucht und stehe auf der Warteliste. Auch habe ich einen guten Freund, mit dem ich mich ab und an tiefer gehend austauschen kann.

Was hilft dir im MS-Alltag, damit es dir physisch besser geht?

Tagesroutine. Vom ersten Tag an, an dem ich krankgeschrieben war, stand ich trotzdem jeden Morgen in der Früh auf, gefolgt von Duschen, Anziehen, Pflichtarbeiten, auch wenn es nur der Eintrag ins Tagebuch ist oder die Informationen für den Arzt oder die Versicherungen zusammenstellen. Des Weiteren habe ich begonnen, ein Buch zu schreiben. Kaffeepausen, Mittagessen usw. sind zu fixen Zeiten. Mit Struktur ist es für mich einfacher, nicht bloß in den Tag zu leben. Zweimal pro Woche absolviere ich Physiotherapie, was für mich sehr wichtig ist und mir guttut. Seit August 2024 arbeite ich wieder Teilzeit, wodurch sich eine Regelmäßigkeit von selbst einstellt.

Welche Tipps und Tricks hast du, die den MS-Alltag ganz konkret erleichtern?

Ein gewisser Grad an Egoismus tut mir gut. Bewusst in den Tag gehen, auch mal „nein, das ist mir nicht möglich“ sagen. Ich freue mich über kleine Ziele, die ich erreicht habe. Früher war ich der Typ „grösser und weiter“ ist besser. Meine körperlichen Probleme sind für meine Mitmenschen klar ersichtlich. Darum spreche ich offen über meine Erkrankung und ersticke dadurch Gerüchten und Vermutungen im Keim.

Was hilft dir am besten bei Fatique?

Bewegung und Routine. Im Frühling werde ich ein „Hand-Bike“ testen und erhoffe mir, damit ein Stück Freiheit zurückerobern zu können.

Wie hilft dir der Mollisuit?

Ich kann wieder sechs Stunden durchschlafen, zuvor waren es lediglich zwei Stunden. Blasen- und Darmreizung sind weg, Spastik-Spitzen sind weniger geworden. Somit bin ich in der Therapie leistungsfähiger bei SensoPro, Beinpresse, Mobilisierung. Trotzdem gehe ich an Gehhilfen, aber die Erholungszeit ist verkürzt.

Außerdem schreibe ich ein Tagebuch und führe Statistik. Das hilft mir zu erkennen, wo ich stehe. Beides leite ich ebenfalls an Arzt und Therapeuten weiter.

Welche Ding in deinem Leben haben sich komplett verändert, seitdem du erkrankt bist bzw. die Diagnose hast?

Spontanität. Ich muss oder will planen, was mir ein Gefühl von Sicherheit gibt. Früher war ich offen für Neues.

Was vermisst du am meisten, wenn du an dein Leben vor der MS-Diagnose zurückdenkst?

Spontan sein und ausprobieren. Ich war ein Büezer [Anm. d. Redaktion: In der Schweiz umgangssprachlich für jemand, der einer körperlichen oder handwerklichen Tätigkeit nachgeht], gelernter Landwirt, habe als Türsteher gearbeitet, führte 12 Jahre erfolgreich meine eigene Gartenbaufirma, wurde dann Maschinist und Magaziner. All das ist mir heute nicht mehr möglich, was Wehmut auslöst.

Gibt es vielleicht sogar Dinge, die du als positiv bewerten würdest, seit der PPMS-Diagnose?

Positiv ist ein falscher Ausdruck. Ich wurde aus meiner Wohlfühlzone gerissen, als „Macher“ zu hundertprozentiger arbeitsunfähig verdammt. Also folgte eine Umschulung und eine 180°-Wende, damit ich wieder Teil der Gesellschaft werde und meinen Anteil zum Bruttosozialprodukt beitragen kann. Auch im Umfeld, der Familie und der Arbeitswelt hat sich gezeigt, wer oder was mir guttut oder nicht.

Nimmst du gerade Medikamente oder bist sonst in Behandlung? Was hat dir geholfen und auf welche Erfahrungen hättest du verzichten können?

Ocrevus bekomme ich seit dem Jahr 2022, Fampyra, Lioresal und je nach Tagesform Sativex. Zwei- bis dreimal pro Woche trage ich den Molli Suit und absolviere regelmäßig MTT (Medizinische Trainingstherapie) zuhause.

Zweimal wöchentlich habe ich Physiotherapie und arbeite glücklicherweise seit Dezember 2022 mit derselben Therapeutin. Sie kennt sich sehr gut mit MS aus. Regelmäßig steht SensoPro, Mobilisierung und Beinpresse auf dem Plan. Bewegung im Allgemeinen tut mir gut. Deshalb auch mein Ziel, mir ein Hand-Bike anzuschaffen.

Es gibt keine Erfahrung, auf die ich verzichten könnte. Ich bin froh, Medikamente ausprobiert, aber auch abgesetzt oder gewechselt zu haben. Es ist ein Prozess, bei dem es herauszufinden gilt, wie mein Körper reagiert und was ihm hilft.

Hast du vielleicht sogar schon oder alternative Therapieformen hinter dir, die neben der regulären Therapie helfen sollen?

Ich nehme Nahrungsergänzungsmittel und bin zufrieden damit.

Was triggert deine PPMS richtig stark? Was hilft, sie zu entspannen?

Stress, sehr kaltes oder heißes Wetter, Körpertemperatur über 37.5°C und Essen. Ich versuche einfach zu entspannen und auch mal zu sagen „sorry, ich muss absagen“.

Hast du deine Ernährung verändert, seitdem du erkrankt bist?

Seit ich meine Frau kenne, ernähre ich mich gesünder. Aber aufgrund der Krankheit reduzierte ich den Fleischkonsum, erhöhte den Rohkostanteil. Auf Alkohol verzichte ich fast vollständig. Ganz selten genieße ich ein Glas Rotwein. Früher rauchte ich gerne Zigarren, jetzt nur noch sehr selten. Aber bei diesen Gelegenheiten kann ich dann Sativex sogar aussetzten.

Wie geht es dir aktuell?

Stabil würde ich sagen. Wir testen regelmäßig meinen Ist-Zustand. Gehen ohne Gehhilfen ist anstrengender geworden. Aber gemäß Test und Tagebucheintrag bin ich stabil. Im Jahr 2024 war mein REHA-Eintritts-Test so gut wie der REHA-Austritts-Test im Jahr 2022 und darauf bin ich stolz. Mit der Unterstützung der Invalidenversicherung durfte ich an einer Umschulung für eine sitzende Tätigkeit teilnehmen und lernte unter anderem, mich zu bewerben. Seit August 2024 habe ich einen großartigen Job in einem Familienunternehmen, wo ich zuständig bin für die Datenerfassung- und pflege, Pflanz- und Kulturjournal, Erfassung der Erntezeitpunkte usw. Das Familienunternehmen hat sich von Beginn weg über meine Krankheit informiert, Zeit und Geld investiert, damit ich mein Pensum von aktuell 30 Prozent erfüllen kann. Ich fühle mich angenommen und wertgeschätzt. Des Weiteren läuft seit August 2024 meine Rentenprüfung.

Was kostet dich seit deiner Diagnose besonders viel Kraft im Leben?

Das Funktionieren allgemein, aber auch das Auf und Ab. Es gibt Tage, da geht alles einfacher. Zwei Tage später ist wieder alles zäh.

Was wünscht du dir in Bezug auf MS?

Dass die Forschung Durchbrüche zur Heilung erzielt und dass die Diagnosefindung von Ärzten nicht auf Willkür und Statistiken beruht wie z.B. bei mir: 50 Jahre alt, Arbeiter, 120 kg schwer, also handelt es sich um Lendenwirbelsyndrom. Es wurde nicht gefragt, ob und wieviel Sport ich mache, meine Einwände wurden ignoriert, mein sonstiger Alltag ausgeblendet. Einzige Alternative war die Aussage, dass es psychosomatisch bedingt sei.

Schlusswort:

Für alle frisch diagnostizierte Patienten: Dr. Google meiden! Sucht Euch Therapeuten, Ärzte, eine REHA, die mit dem Krankheitsbild der Multiplen Sklerose vertraut sind. Tauscht Euch mit anderen MS-Betroffenen aus. Für mich ist der Verein “MS Schweiz“ eine regelmäßige Anlaufstelle. Aber wirklich bereichernde Kontakte und einiges an Wissen habe ich vor allem Instagram zu verdanken.

Mein Motto? Angst beginnt im Kopf, Mut auch!