Name: Mila
Alter: 27 Jahre alt
Diagnose : Colitis Ulcerosa (Chronisch Entzündliche Darmerkrankung – 2014
Instagram: @milaquirin
Interview:
Wie verlief dein Weg von den ersten Symptomen bis zur Diagnosestellung Colitis ulcerosa?
Die ersten Symptome waren rückblickend schon Jahre vor den ersten Problemen mit meinem Darm vorhanden. Ich erinnere mich vor allem noch sehr gut an diese unbändige Erschöpfung. Meine Eltern hatten gerade ein Haus gekauft und wir wollten alle bei der Renovierung helfen. Bei mir kam es aber immer häufiger vor, dass mich von einer Minute zu nächsten eine Müdigkeit übermannte, gegen die ich nichts tun konnte und so fand ich mich auf einer Jogamatte zusammengekringelt in einem Zimmer wieder, während in den anderen Räumen gesägt, gehämmert und gebohrt wurde.
Die ersten Symptome, die so wirklich mit dem Darm zu tun hatten, kamen erst über zwei Jahre später. Ohne große Vorwarnung fand ich Blut in der Toilette. Damals war ich 16 und konnte überhaupt nicht einschätzen, ob und inwiefern das problematisch sein könnte. Es dauerte eine Woche, bis ich mich meinen Eltern anvertraute. Diese schickten mich zu meiner Hausärztin, wo ich zwar keine Diagnose aber mein erstes medizinisches Trauma bekam.
Nachdem mich die Ärztin mit ihrem behandschuhten Finger rektal untersucht hatte, zeigte sie auf und schien zufrieden, nichts gefunden zu haben. Sie fragte mich, ob ich mir sicher sei, dass Blut auf dem Stuhl nicht mit meiner Periode verwechselt zu haben. Ich war so fassungslos und auch von einer gewissen Scham überwältigt, dass ich darauf nicht reagieren konnte.
Es dauerte Monate, bis ich wieder bereit war, einen anderen Behandler zu konsultieren. Dieses Mal eine Proktologin. Auch eine genauere Untersuchung meines Enddarms blieb ohne Befund und die Symptome wurden dem Stress zugeschoben, den man als junge Frau kurz vorm Abitur hat. Damit war das Thema für mich gegessen.
Essen tat ich zu diesem Zeitpunkt tatsächlich nur noch sehr restriktiv und mit großem Widerwillen. Alles was oben rein kam, sorgte nur wenige Minuten später dafür, dass unten unter größten Schmerzen etwas raus musste.
Über die Weihnachtsfeiertage baute ich so stark ab, dass ich Anfang 2014 nicht mal mehr Kraft hatte, mich gegen eine Darmspiegelung zu wehren. Diese brachte schnell eine Diagnose: Colitis Ulcerosa
Wie hast du die Diagnose CED aufgenommen? War dir, deiner Familie und Freunden klar, was diese Diagnose bedeutet?
Die Diagnose wurde meiner Mutter direkt nach der Koloskopie mitgeteilt. Ich erinnere mich noch daran, wie wir diese uns damals völlig unbekannten Begriffe Colitis ulcerosa und Chronisch-entzündliche Darmerkrankung Zuhause gemeinsam googelten. Und an die Angst. Damals gab es sowas wie Mut-Mach-Geschichten noch nicht im heutigen Umfang. Presseberichte beschäftigten sich besonders mit den schweren Verläufen, die ihren Dickdarm operativ entfernt bekommen hatten und mit Stoma oder Pouch leben. Ich konnte zu diesem Zeitpunkt nicht einschätzen und vor allen nicht wissen, dass eine CED nicht zwingend so „endet“ und dass ein Stoma nicht das Ende bedeutet. Ich tat völlig überwältigt das, was viele Betroffenen am Anfang tun: Ich verdrängte meisterhaft und versuchte mein Leben ganz normal weiterzuführen.
Weder mir noch meinen Angehörigen oder Freunden war zu dem Zeitpunkt klar, dass mein Leben nie mehr so wie vorher sein würde. Wir hielten uns alle sehr lange an dem Begriff „schubweise“ fest. Dass ich aus dem ersten Schub über 8 Jahre nie so richtig rauskommen würde, war undenkbar.
Was ist bis jetzt deine größte Herausforderung mit Colitis ulcerosa gewesen?
Die Erkrankung zu akzeptieren. Ich habe mich sehr lange dafür geschämt, eine Krankheit zu haben, mit der sich das Leben um die nächste Toilette und die Stuhlfrequenz- und Konsistenz dreht. Mich traf meine Colitis in einem Alter, in dem ich weit davon entfernt war, ein gesundes Körperbild, aber auch eine resiliente psychische Verfassung aufgebaut oder gar so etwas wie eine Persönlichkeit etabliert zu haben. Die Konsequenz war, dass ich einen großen Teil von mir wegrationalisierte und verstieß. Ich verlor den Halt in meinem Alltag, im Studium, aber auch Rückhalt in meinem sozialen Umfeld und entwickelte eine generalisierte Angststörung und Depressionen.
Von 2016 an bestand meine größte Herausforderung darin, aus dem Abwärtsstrudel — schließlich wissen wir heute, dass sich Darm und Psyche gegenseitig bedingen — herauszufinden und mich als Mensch mit Behinderung in meiner neuen Lebensrealität zu akzeptieren. Unterstützung bekam ich hierbei von einer sehr guten Psychotherapeutin und meinem Hund Einstein.
Was mir sehr geholfen hat, wieder Fuß zu fassen und mich MIT Erkrankung neu zu erfinden, war der Kontakt mit anderen Betroffenen, mein Biologiestudium, in dem ich lernte, was da eigentlich in meinem Körper passiert und Einstein, der mir völlig bedingungslos zeigte, dass er mich mit CED liebt. Wenn ich heute mit frisch Diagnostizierten spreche, versuche ich ihnen ein ganzheitliches Konzept von Erkrankungen mitzugeben und sie für Selbstermächtigung zu sensibilisieren. Wie das aussieht, ist individuell. Für manche besteht sie darin, ein informierter Patient zu sein, andere betreiben viel Sport und meditieren oder begeben sich in Psychotherapie und wieder andere setzten sich mit ihrer neuen Lebensrealität und Krankheitsakzeptanz über Kunst und Literatur auseinander.
Mit „Die Organmalerin“ und „Bauchflüstern“ hast du zwei Bücher über den Menschen, seine Organe und im Speziellen den Bauch plus Darm geschrieben. Wie viel von dir und deiner CED steckt in den Büchern?
In „Bauchflüstern“ geht es um eine junge Biologiestudentin mit Colitis ulcerosa, die mit sich selbst und ihrem Umfeld voller Unverständnis und Vorurteilen um ihr Selbstbild und einen Platz im Leben kämpft. Die Protagonisten Mina basiert, wie ich inzwischen sage, auf einer früheren Version von mir. Sie leidet sehr unter sozialen Ängsten und dem Kontrollverlust, der mit einer CED einhergeht. Vieles, was in „Bauchflüstern“ beschrieben wird, habe ich genau so oder in ähnlicher Weise erlebt, aber vor allem gefühlt und gedacht. Anderes habe ich etwas überspitzt dargestellt, hinzugedichtet oder ausgelassen. Im Endeffekt ist es eine fiktive Geschichte mit autobiografischen Zügen. Als ich das Buch 2019 geschrieben und 2020 veröffentlicht habe, war aber vor allem das Ende für mich eine Utopie. Ein Gefühl, von dem ich zu diesem Zeitpunkt noch träumte und das mir meine Protagonistin voraus hatte: Meine CED und ich sind kein Tabu.
Die Organmalerin war für mich eine Möglichkeit mein Interesse für Kunst, Medizin und gute Mordfälle zu verbinden. Ich lese leidenschaftlich gerne Thriller und wollte das Thema CED dieses Mal eher als Seitenstrang einfließen lassen. Die Idee für die Organmalerin kam mir als ich ein Buch über Kunstästhetik las, das meine Sicht auf mich selbst und meine Persönlichkeitsanteile nachhaltig veränderte. Die Organmalerin könnte man tatsächlich als den nächsten notwendigen Entwicklungsschritt in meinem Leben bezeichnen und ich glaube, dass sich das auch in den Charakteren und dem Thema Kolektomie widerspiegelt. Auch in diesem Buch finden sich viele meiner Gedanken, Ängste und Traumata mit meiner CED.
Zusammenfassend lässt sich, glaube ich sagen, dass der Leser in diesen beiden Geschichten, obwohl sie völlig unabhängig von einander sind, selbst miterleben kann, wie ich zusammen mit meiner CED erwachsen wurde und für mich einen guten Umgang mit dieser Erkrankung gefunden habe.
Du hast Biologie studiert. Was ist die beste Erkenntnis für dich, deinen Körper und deine Colitis ulcerosa, die du aus dem Studium ziehen konntest?
Im Biostudium habe ich vor allem gelernt, Muster zu erkennen und zwischen verschiedenen Detailebenen hin und her zoomen zu können. In der Biologie beschäftigt man sich mit kleinsten Atomen, deren Verbindungen und wie diese als Moleküle schließlich Zellen formen. Verschiedene Zellen formen Organe und Gewebe und schließlich einen Organismus. Ich habe gelernt, das große Ganze im Auge zu behalten, während ich mir die winzigen Puzzleteile zu einem Bild zusammenfüge. Ich finde, dass lässt sich wunderbar auf das Leben mit CED übertragen. Wenn man sich mit dem Darm beschäftigt, dann trifft man auf den Spielplatz verschiedenster Fachdisziplinen, die man in Kliniken sonst nicht mal im selben Gebäude finden würde. Von Zellbiologie, Genetik, Neurologie über Mikrobiologie, Virologie, Histologie, Psychologie und Ernährungsmedizin ist alles dabei. Man kann sich wunderbar auf die einzelnen Disziplinen stürzen und sich darin verlieren oder man kann schauen, an welchen Stellen und auf welcher Auflösungsebene Schnittstellen bestehen. Und das ist das, was wir in der Behandlung einer CED immer häufiger beobachten können. Die Medizin ist in ihre Fachdisziplinen aufgeteilt, aber eigentlich müsste man wieder damit beginnen, den Körper und die Psyche als eine zusammenhängende Entität zu sehen. Für uns Patient:innen kann das auf der einen Seite natürlich überfordernd sein, auf der anderen Seite bietet uns das neue Ansatzpunkte unseren Alltag mit Krankheit über die verschiedenen Zoomebenen anzugehen.
Wie gehst du mit Menschen um, die dir deine Krankheit absprechen, etwa weil du gesund aussiehst oder jung und erfolgreich bist?
Das ist zum Glück schon länger nicht mehr passiert. Ich versuche grundsätzlich zu verstehen, wieso mein Gegenüber gerade so reagiert und mir ins Bewusstsein zu rufen, dass auch ich mit dem gesellschaftlich gefestigten Stereotyp vom armen hilflosen Behinderten groß geworden bin und mich immer wieder mal bei Vorurteilen oder unüberlegten Äußerungen ertappe. Es hängt dann schließlich von meinem Gegenüber ab, wie ich reagiere. Ist es ein Mensch, mit dem ich häufiger zu tun habe, versuche ich ihm zu erklären, weshalb sein Verhalten oder seine Äußerung gerade ableistisch war oder mich sogar verletzt hat. Meistens geht es im Alltag aber tatsächlich weniger um einzelne Menschen, die man im Zweifel einfach meiden könnte, sondern um ein ganzes System, das nicht nur nicht auf Menschen mit Behinderung ausgelegt ist, sondern vor allem nicht auf junge, erfolgreiche Menschen mit Behinderung. Da wird es dann richtig hart, sich nicht von Behörden gaslighten zu lassen und nicht zu verzweifeln, weil man wiedermal nicht in das vorgefertigte Bild passt. Mir hat es gerade im persönlichen Austausch geholfen, die Außensicht anderer Menschen auf mich möglichst gut von meiner Innensicht von mir und meiner Erkrankung zu trennen und möglichst bewusst zu entscheiden, wem ich überhaupt Zugang zu dem Wissen über meine Behinderung und meine emotionalen Reaktionen gestatte.
Auf deinem Instagram Profil @milaquirin sieht man eine aufgeklärte Mila, die über Colitis ulcerosa und das Leben mit CED informiert. Genauso sieht man aber, wie sehr dich die Krankheit emotional trifft, weil sie schon so lange ein sehr anstrengender Teil von dir ist. Wie schaffst du es, dich psychisch stabil zu halten oder dich gar zu motivieren, wenn es dir gerade richtig dreckig geht?
Gar nicht. Eine der wichtigsten Lektionen die ich mit CED, Angststörungen, Depressionen und seit zwei Jahren auch Arthritis lernen musste ist, dass es manchmal nicht geht und dass das okay ist. Es gibt immer wieder Phasen, in denen mir alles zu viel ist und ich merke, dass ich psychisch abrutsche. Dann schaue ich von Tag zu Tag, was machbar ist und wo meine Grenzen sind. Das heißt aber auch, dass jeder Tag eine neue Chance ist, um mich wieder etwas besser zu fühlen.
Ich versuche mir immer wieder bewusst zu machen, dass es absolut okay ist, mich gerade schlecht zu fühlen oder das psychisch nicht zu schaffen und ich aber gleichzeitig Werkzeuge habe, mit denen ich mein Wohlbefinden positiv beeinflussen kann. Ich merke es sehr stark an meiner Ernährung, Sport und vor allem meiner Schlafhygiene.
Was mich motiviert, sind die Menschen der CED-Community. Einige von ihnen zähle ich inzwischen zu meinen Freunden und wir achten gegenseitig aufeinander. Insgesamt ist es aber mein stetiger Ansporn, den CED-Betroffenen zu helfen. Sei es mit Fachwissen, über Selbsthilfeangebote oder über meine persönliche Geschichte. Ich bekomme hin und wieder Rückmeldungen, dass meine Arbeit Menschen positiv in ihrem Selbstbild und ihrer Krankheitsakzeptanz beeinflusst. Das ist für mich die größte Motivation, mich immer wieder aus meinen Einzelteilen zusammenzusetzen und ein kleines Stückchen weiter aus der Komfortzone herauszutreten und hilft natürlich auch mir dabei mich mit Erkrankung wohler zu fühlen.
Wie weit hat CED deinen Lebensweg verändert?
Auf allen erdenklichen Ebenen. Meine CED hat mich körperlich und psychisch dermaßen niedergestreckt, dass ich mich selbst und mein Leben komplett auseinander nehmen und neu zusammensetzen musste. Ich musste in diesem Prozess einige Träume und Personen zurücklassen, aber konnte neue Leidenschaften entdecken, neue Fähigkeiten erlernen und einen Weg einschlagen, der besser zu mir und meinem Leben passt. Obwohl das jetzt natürlich recht gefestigt klingt, hat mich die CED, aber vor allem die Arthritis als extraintestinale Manifestation viel gekostet. Oft war ich mehr als verzweifelt und wusste nicht wohin mit mir. Zum Beispiel musste ich meine Forschungszeit im Labor für meine Masterthesis nach wenigen Wochen abbrechen, weil die Arthritis heftig aus dem Nichts zuschlug und fast zwei Jahre überhaupt nicht medikamentös zu kontrollieren war. Damals ist eine Welt über mir zusammengebrochen, weil ich nicht wusste, wie ich mein Studium so zum Abschluss bringen sollte. Noch heute weiß ich nicht, ob ich meine Laufbahn in der Wissenschaft werde weiterführen können und versuche offen für alternative Möglichkeiten zu bleiben.
Ich hätte zum Beispiel nie gedacht, dass ich mal ein Schuljahr als Privatdozentin arbeiten würde. Man entwickelt sich zusammen mit der Erkrankung und muss ja zwangsläufig irgendwie einen Weg finden. Ich finde es aber schön, immer mal wieder inne zu halten und zu bemerken, dass sich das ständige Kämpfen, Weiterentwickeln, Abstürzen und wieder von vorne Anfangen lohnt. Ich merke es an mir, aber vor allem den Menschen in meinem Umfeld. Ich habe das Glück inzwischen unglaublich empathische, liebevolle und starke Menschen in meinem Bekanntenkreis zu wissen. Ich glaube, wenn man sich Zeit lässt und sich irgendwann mit Erkrankung liebt, fügen sich die Puzzleteile irgendwie zu einem neuen Bild zusammen, das man so natürlich in dem gesunden Leben davor nie erwartet hätte.
Trägst du ein Stoma oder denkst darüber nach? Was sind deine Gedanken oder Bedenken, wenn es soweit wäre?
Ich trage kein Stoma. 2021 hat mich meine damalige Behandlerin damit konfrontiert, dass ich mich langsam mit dem Gedanken einer Kolektomie auseinandersetzen müsste. Es ist bis heute zum Glück nicht dazu gekommen und mein Darm und ich leben inzwischen in weitestgehend friedlicher Co-Existenz. Zum Thema Stoma habe ich extrem ambivalente Gefühle, denn ich kenne Menschen, die ein wunderbares Leben mit Stoma oder aber Pouch führen und darüber enorme Lebensqualität zurückgewinnen konnten. Ich weiß also rein rational, dass ein Stoma nicht den Weltuntergang bedeutet und wirklich positive Auswirkungen haben kann. Und trotzdem ist dieses Thema für mich emotional noch negativ und vor allem mit Angst belegt. Weniger vor dem Alltag mit Stoma, sondern vor der OP, den Schmerzen und dem Heilungsprozess. Ich versuche, mich immer wieder mit dem Gedanken und meinen Gefühlen dazu auseinanderzusetzen und das Thema für mich weiter zu normalisieren. Deshalb bin ich sehr dankbar dafür, dass es in der CED-Community Menschen gibt, die großartige Aufklärungsarbeiten leisten von ihren Erfahrungen berichten und so ein wenig der Angst nehmen können.
Wie geht es dir aktuell?
Das Leben mit chronischen Erkrankungen ist, obwohl ich das jetzt schon seit über 10 Jahren mitmache, immer wieder eine Überraschungstüte mit wechselnden Herausforderungen. Wie es mir geht, kann sich innerhalb weniger Minuten ändern. An einem Tag gehe ich stundenlang spazieren, am nächsten Tag schaffe ich es kaum aus dem Bett. Gerade lache ich noch, im nächsten Moment sitze ich mit Schweißausbrüchen auf der Toilette. Es ist ein stetiges Ausprobieren und Anpassen. Immer wenn ich denke, ich hätte das Rätsel um meinen Körper gelöst, ändern sich die Spielregeln. Aber Vieles steht und fällt mit meinem Darm und mit dem stehe ich momentan ziemlich stabil im Alltag. Ich hoffe darauf, dass Arthritis, Schmerzen und Fatigue nachziehen und ich wieder häufiger die schönen Seiten des Lebens erleben darf.
Welche Erfahrungen hast du mit den diversen Therapien gemacht, die es für Colitis ulcerosa gibt?
In Sachen Medikamente habe ich glaube ich so ziemlich alles ausprobiert, was es auf dem Markt gibt. Mit unterschiedlichen Erfolgen und Nebenwirkungen. Ich hatte dabei oft das Gefühl, dass die verschiedenen Medikamente mich in meinem Charakter und Persönlichkeitsanteilen beeinflussen — ich wusste irgendwann nicht mehr, ob das gerade ich bin oder die Nebenwirkungen des Medikaments — und bin froh, dass ich derzeit einen Wirkstoff erhalte, mit dem ich mich zum ersten Mal wieder wie ich selbst fühle.
Wie sind deine Erfahrungen mit Ärztinnen und Ärzten?
Gemischt. Die ersten Jahre mit Colitis wurde mir mein Leidensdruck immer wieder abgesprochen. Meine Erfahrungen und Symptome wurden von meinen Behandlern logischerweise mit anderen Betroffenen verglichen und ich bekam Sätze zu hören wie „Stell dich nicht so an. Anderen geht es schlechter als dir.“ Nachdem ich das Jahre lang so oder so ähnlich zurück gemeldet bekam, begann ich mich und meine Wahrnehmungen selbst zu hinterfragen und verlor den Zugang zu meinem Körpergefühl. Besser wurde meine Colitis dadurch natürlich nicht. Eher im Gegenteil. Als wir schließlich gedanklich bei der Kolektomie angekommen waren, entschied ich mich, den Arzt zu wechseln. Eine der besten Entscheidungen meines Lebens.
Ich bin jetzt an einer Uniklinik (vor allem) bei Ärzt:innen in Behandlung, die interdisziplinär zusammen arbeiten und behandeln. Darm, Psyche, Schmerzen und Gelenke werden nicht mehr getrennt voneinander betrachtet, sondern einheitlich angegangen. Die Bemühungen der Ärztinnen tragen Früchte und bei mir wurden psychische Wunden geheilt, weil mir endlich Glauben geschenkt und auf meine Körperwahrnehmung eingegangen wird. Frisch diagnostizierten würde ich raten, auf ihr Bauchgefühl zu hören. Die Beziehung zu unseren Gastroenterologen sollte auf gegenseitigem Vertrauen basieren.
Ich würde grundsätzlich dazu raten, in Vorbereitung auf den Termin eine Liste anzulegen, mit Themen und Fragen, die man besprechen möchte. So kann man hoffentlich verhindern, dass man mit mehr Fragen als Antworten aus dem Gespräch raus geht. Weiter kann es helfen, emotionale Unterstützung zu einem Termin mitzunehmen, weil die Konfrontation mit Ärzt:innen trotz guten Verhältnisses doch irgendwo einschüchternd sein kann.
Hast du schon alternative Heilmethoden ausprobiert, die dich zu Beispiel bei deiner Therapie unterstützen sollen?
Mit dem Begriff alternative Heilmethoden bin ich nicht so glücklich. Und das auf mehreren Ebenen. Zum Einen wird der Begriff in der Gesellschaft irgendwo damit verbunden, dass sich die Medizin ausschließlich auf die „böse“ Pharmaindustrie und schädliche Chemie verlässt, im Gegensatz zur pflanzlichen Bio-Quacksalberei. Das schadet langfristig beiden Seiten. Zum anderen ist eine CED eine chronische Erkrankung und zum jetzigen Zeitpunkt nicht heilbar. Es geht also nicht darum, eine Methode zu finden, die mich gesund macht, sondern mit der ich mich langfristig besser fühle. Und da verschwimmen die Grenzen etwas.
Während „Schulmedizin“ evidenzbasiert ist, müssen sich alternative Heilmethoden nicht in Studien bewähren, um angewendet werden zu dürfen. Das heißt allerdings nicht, dass „Naturheilkunde“ oder „Akkupunktur“ nicht auch hilfreich sein können. Wenn man den Menschen als ganzheitliches System aus Körper und Psyche betrachtet, dann ist es naheliegend, dass Berührungen, Yoga, Sport und eine gesunde ausgewogene Ernährung helfen können, die Lebensqualität mit chronischen Erkrankungen ganzheitlich anzugehen. Ich persönlich denke, dass bestimmte „alternative“Ansätze durchaus eine gute Ergänzung zu Medikamenten sein können und habe da auch schon verschiedenes ausprobiert. Ich bin grundsätzlich der Auffassung, dass man sich damit durchaus mal beschäftigen und ausprobieren kann, solange man sich damit keinen Schaden zufügt und es im besten Fall mit seinen Ärzten abspricht.
Im Endeffekt kann man alles, was man seinem Körper bewusst zuführt oder vorenthält als Heilversuch ansehen, wir sollten uns aber von solchen Begriffen wie alternativ oder Naturheilkunde nicht in die Irre führen lassen und glauben, dass uns das keinen Schaden zufügen kann. Es gilt auch hier gründlich abzuwägen und als Patient:in verantwortungsvoll informiert und nicht aufgrund von Trends zu entscheiden.
Was wünscht du dir in Bezug auf die Krankheit?
Vor allem Forschung, Aufklärung und Enttabuisierung. Über meine beruflichen Verzweigungen bekomme ich auf all diesen Ebene ein bisschen was mit und darf zum Glück auch aktiv daran mitarbeiten. Ich wünsche mir, dass wir irgendwann in einer Gesellschaft leben, in der Krankheit und Behinderung als Teil eines bunten verständnisvollen Miteinander völlig normal sind und Patient:innen möglichst beschwerdefrei leben können. Vor allem aber wünsche ich mir, dass sich niemand mehr so einsam und verloren mit seiner CED fühlen muss, wie ich es damals tat.
Schlusswort:
Mein Motto ist „Information ist Macht“ Das hat nicht den Anspruch auf Lückenloses Verständnis über Pathomechanismen und Wirkstoffwirkweisen, über Sozialrechtliche Hintergründe oder wie es sich am Besten mit einer CED lebt. Aber unsere CED-Community hat einen so umfangreichen Erfahrungsschatz und Expertenwissen zu bieten und es ist toll, dass wir relativ Barrierearm über die sozialen Medien miteinander in Austausch treten und uns gegenseitig helfen können. Ich finde, dass wir das unbedingt für uns nutzen sollten. Es ist toll, dass NIK e.V. ein Teil davon ist.