„NIK

Multiple Sklerose: Die Geschichte von Kevin

Mut-Mach-Geschichte von Kevin - Multiple Sklerose

MULTIPLE SKLEROSE: Die Geschichte von Kevin

Ich heiße Kevin und bin 29 Jahre alt. Ich lebe seit 2014 mit der Diagnose Multiple Sklerose.

Der Name deines Instagram Accounts kevin_kaempferherz sagt eigentlich schon alles. Du kämpfst mit ganz viel Herz, vor allem aber nicht für dich, sondern für MS-Betroffene, die vielleicht eher leiser sind. Erzähl mal, was du eigentlich alles machst.

Vielen Dank für die Einladung zum Interview! Als ich meine Diagnose 2014 erhalten habe, suchte ich verzweifelt nach Menschen in meiner Situation, mit denen ich mich identifizieren konnte. Dabei ging es nicht nur um die Erfahrungen von anderen MS Betroffenen, sondern von MS Betroffenen in meinem Alter mit ähnlichem Verlauf, Träumen und Zielen im Leben. Weil ich mich so allein und hilflos fühlte, geriet ich in einen Abwärtsstrudel mit depressiven Schüben.

Knapp eineinhalb Jahre nach meiner Diagnose habe ich all meine Gedanken in ein YouTube Video gepackt. Daraufhin erreichten mich hunderte Nachrichten von Menschen, denen es ging wie mir und die mir schrieben, dass meine Worte ihnen unglaublich viel Kraft, Mut und Hoffnung gaben.

In dieser Zeit wuchs ich immer mehr in die Rolle desjenigen, den ich mir bei meiner Diagnose gewünscht hätte. Heute versuche ich andere Menschen, egal welcher Schicksalsschlag oder welche Krankheit sie getroffen hat, vor dem Abwärtsstrudel in die Depressionen aufzufangen und mich für Inklusion stark zu machen. Viele haben Angst davor, sich öffentlich zu ihren Problemen und Krankheiten zu bekennen, da für sie vieles auf dem Spiel steht. Ich habe meine Aufgabe darin gefunden, für diese Personen voranzugehen und meine Energie für ihre Bedürfnisse zu nutzen.

Das fing in 2016 mit YouTube Videos an. Heute leite ich den YouTube Kanal der DMSG (DMSG Community), Moderiere das inklusive TV Magazin „Yoin -young inclusion“, Interviewe Menschen und gebe ihnen eine Plattform auf meinem Instagram Account Kevin_Kaempferherz. Im März 2020 habe ich mich als Berater selbstständig gemacht und kläre in Schulungen Ärzte, medizinische Fachangestelle oder Sanitätshäuser über den Umgang und die Kommunikation mit chronisch kranken Menschen auf. Mein großes Ziel: Ein Treffen der Kämpferherzen-Community in 2021, bei dem sich alle Menschen zusammenfinden können, die schwere Zeiten durchlebt haben, um in der Gruppe gemeinsam gestärkt zu werden.

Es scheint fast so, als hätte die Multiple Sklerose dir einen Schubs gegeben, dich selbst besser kennenzulernen, so dass du deine wahre Berufung im Leben erkennst?

Das ist richtig. Es gibt ein Leben vor und nach der MS für mich. Vorher war ich sehr karriereaffin und mir ging es oft um die Anerkennung anderer. Mit den Gedanken hing ich meist in der Zukunft oder der Vergangenheit. Die Krankheit lässt mich die für mich wirklich wichtigen Aspekte des Lebens erkennen, beispielsweise, dass das Hier und Jetzt zählt. Leider brauchen wir Menschen häufig erst einen Schicksalsschlag dafür. Auch wenn es paradox klingt, denke ich, dass ich der MS auch einiges zu verdanken habe. Ich habe neue Ziele und Träume und erkenne auf dem Weg dorthin schöne Momente, für die ich vorher gar kein Auge hatte. Es sind Kleinigkeiten, wie der Geruch eines Sommerregens oder die Dankbarkeit dafür Treppen gehen und laufen zu können.


Wie verlief dein Weg von den ersten Symptomen bis zur Diagnosestellung? Gab es Komplikationen?

Tatsächlich war das ein Prozess, der mich bis heute auf verschiedenen Ebenen ärgert. Alles begann mit einem Kraftverlust in der rechten Körperhälfte während des Trainings im Fitnessstudio. Ohne Vorwarnung konnte ich nicht mehr zugreifen oder stehen. Diese Symptome kamen in Schüben – eine Woche lang, jede Stunde für etwa 5 Minuten. Am dritten Tag ging ich zum Hausarzt, der mich zum Neurologen überwies. Nachdem Bilder im MRT von meinem Hirn gemacht wurden und dort ganz eindeutig die typischen Flecken zu sehen waren (Entzündungsherde), meinte der Neurologe, dass dies zwar ungewöhnlich sei für jemandem in meinem Alter, aber ich mir keine Sorgen machen solle. „Wir behalten das mal im Auge…“, sagte der Arzt.

Zwei Monate später zog ich alleine und ahnungslos was die Krankheit betraf für einen neuen Job in eine andere Stadt. Hätte ich von meiner MS gewusst, hätte ich das natürlich niemals gemacht. Kurz darauf verlor ich Woche für Woche mehr Sehvermögen auf dem rechten Auge bis ich beinahe blind war. Nachdem der Augenarzt nichts am Auge selbst entdecken konnte, ging ich mit diesen Symptomen erneut zum Neurologen, der mir eine Sehnerventzündung diagnostizierte, durch die ich stationär aufgenommen wurde, mehrere Tests durchlief und am Ende mit der Diagnose „Multiple Sklerose“ entlassen wurde.

Was ging dir durch den Kopf als du die Diagnose erfahren hast?

Da ich nicht viel mehr über die Krankheit wusste als die typischen Klischees dachte ich, mein Leben sei vorbei. Genau mit diesen Worten rief ich auch meine Mutter aus dem Krankenhaus an. Zu Anfang dachte ich noch, dass ich bald im Rollstuhl sitzen würde, nicht mehr arbeiten könnte, nie eine Familie gründen würde und alleine im Pflegeheim leben müsste. Meine depressive Phase war Mist: Nicht selten spielte ich mit dem Gedanken, nicht mehr weiterleben zu wollen. Egal welche gute Nachricht mit erreichte oder welcher Wunsch mir erfüllt wurde, ich war unglücklich und traurig, nicht mehr gesund zu sein.

Was hat dich in der Zeit seit deiner Diagnose besonders viel Kraft im Leben gekostet?

Jeden Tag mit der Ungewissheit zu leben, wann der nächste Schub kommt und mir weitere Fähigkeiten oder die Kontrolle über Funktionen meines Körpers entzieht. Immer wenn mir ein Bein eingeschlafen ist, dachte ich sofort, dass nun der Tag gekommen sei, an dem ich nicht mehr laufen kann. Mit dieser Unwissenheit hatte ich eigentlich immer Angst. Angst zu reisen, Angst Pläne für die Zukunft zu schmieden, Angst vor allem. Auch heute ist diese Angst manchmal noch ein Thema für mich, wenn ich zum Beispiel an ein Eigenheim oder Nachwuchs denke. Jedoch lasse ich mir heute von der MS nicht mehr das Leben bestimmen und durch meinen Job und meine damit verbundene Aufgabe bin ich nur noch stärker geworden.

Hast du das Gefühl, das nicht MSler dir gegenüber Vorurteile haben? Welche sind das, deiner Erfahrung nach und wie begegnest du dem? Wie würdest du dir wünschen, dass nicht Erkrankte am besten mit dir umgehen?

Ich denke nicht, dass es Vorurteile sind. Ich denke, es ist eher Unwissenheit. Und dafür kann ich niemandem böse sein. Ich persönlich kenne auch nicht alle Krankheiten und was sie für Folgen haben. Schade finde ich es nur, wenn beispielsweise Arbeitgeber einem Menschen mit MS keine Chance geben, weil sie fürchten, wir seien ein Risiko für das Unternehmen. Daher setze ich mich stark für die Aufklärung bei MS ein.

Therapierst du gerade? Hast du vielleicht sogar schon mehrere Therapieformen hinter dir? Was hat dir richtig gut geholfen? Wie sieht da mit alternativen Therapieformen aus, wie z.B. CBD-Öl, Ernährungsumstellung etc.? Hast du damit Erfahrungen?

Tatsächlich mache ich gerade eine Basistherapie in Tablettenform. Ich bin aber ein großer Fan von antientzündlicher Ernährung und Sport. Ich mache seit über 12 Jahren Fitnesssport und kenne mich gut aus mit Nährstoffen, Vitaminen und Mineralstoffen. Im letzten Jahr habe ich eine vegane Woche ausprobiert, was über ging in einen veganen Monat und schlussendlich drei ganze Monate ohne tierische Produkte wurde. Ich fühlte mich besser als jemals zuvor. Habe sogar mehr Kraft im Sport entwickelt, war ausgeschlafener und konzentrierter. Heute lebe ich zu 90 Prozent vegan, aber gönne mir hin und wieder auch mal eine Käsepizza, Steak oder Fisch. Ich nehme Nahrungsergänzungsmittel, wie Omega-3, Weihrauch, Vitamin D3+K2, Traubenkernextrakt und gelegentlich CBD. Außerdem versuche ich so stressfrei wie möglich zu leben und dabei ein positives Mindset zu haben. Ich sage mir immer selbst, dass ich nie wieder einen Schub haben werde.

Auf der Bühne bist du nicht nur Moderator, sondern auch Motivator. Welche Tipps und Tricks kannst du MS-Betroffenen geben, wenn sie mal so richtig down sind und gar nichts mehr funktioniert?

Es hilft sehr, wenn wir uns nicht auf das fokussieren, was nicht mehr geht, sondern auf das, was uns bleibt. Sollte ich nicht mehr gehen können, wird mich das bestimmt auch traurig machen. Jedoch kann ich es dann nicht mehr ändern und nun nur noch zu trauern, wird mein Leben nicht wieder besser machen. Wenn ich nicht mehr gehen kann, denke ich an alle Körperfunktionen, die noch funktionieren. Ich kann noch riechen, schmecken und mit den Fingern fühlen. Wie klasse ist das denn?! Die Beine wollen nicht mehr? Ok, dafür aber die Arme. Statt zu joggen, nehme ich mir nun mehr Zeit für die Fotografie. Wenn die Arme dann auch nicht mehr wollen, denke ich an alles, was noch möglich ist mit meinen Augen und mit meiner Stimme. Vielleicht starte ich meinen eigenen Podcast oder spreche ein Hörbuch ein.

Wenn wir heute aufgeben, kann das Leben nur noch schlecht sein. Wenn wir allerdings bereit sind zu kämpfen, haben wir noch die Chance auf viele schöne Augenblicke. Das ist vielleicht nicht die Penthouse Wohnung in New York und möglicherweise auch nicht der Porsche in der Einfahrt. Aber das können Gespräche mit tollen Menschen, der kalte Regen auf der Haut an einem heißen Tag oder der Geruch des Waldes beim Sonnenaufgang sein.

Du bist unglaublich umtriebig. Doch die MS kostet viel Energie. Wie bewältigst du deinen Alltag und was hilft dir ganz konkret, deine MS jeden Tag gut in den Griff zu bekommen?

Meine Kraft schöpfe ich aus der Community und von den tollen Menschen, die ich erst durch die Krankheit kennengelernt habe. Ich erhalte viele Nachrichten von Betroffenen mit verschiedensten Schicksalsschlägen. Das geht los mit Menschen, die häusliche Gewalt in der Kindheit erfahren haben oder missbraucht wurden, bis hin zu Personen, die auf vielfältige Weise krank sind und führt zu Leuten, die Verlustängste und andere Angststörungen haben. Wenn diese Menschen mir schreiben, dass es ihnen besser geht, seitdem sie mit mir interagieren, ist das die größte Motivation für mich am Ball zu bleiben. Außerdem habe ich mir ein sehr großes Ziel gesetzt: Den Aufbau einer starken Reichweite, um noch mehr gehört zu werden. Mit dieser Reichweite möchte ich in die Medien gehen und mich stark machen für andere. Außerdem möchte ich in der Politik etwas verändern und vor allem die MS Forschung voranbringen.

Wie geht es dir aktuell?

Besser als jemals zuvor! -Trotz MS 😉

Was wünscht du dir in Bezug auf MS?

Einen großen Sprung nach vorne in der Forschung. Ich selber habe mich damit abgefunden, wahrscheinlich kein Heilmittel mehr mitzuerleben, aber zukünftige Generationen sollen nicht mehr diese Verzweiflung spüren müssen, unheilbar krank zu sein.

Schlusswort:

Mein Motto ist: Stark – trotz Schicksalsschlag. Aus Kevin Marc Hoffmann wird Kevin macht Hoffnung. Ihr seid nicht alleine und gemeinsam sind wir stärker.

 

Stand 2020