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Interview mit Apothekerin Dr. Nina Unger

Interview mit Apothekerin Dr. Nina Unger

(Es wurde wegen der Lesbarkeit nicht gegendert – aber immer sind alle Gender-Formen gemeint und eingeschlossen. In Apotheken – hier ist pharmazeutisches Personal gemeint: Apotheker, PTAs, Pharmazie-Ingenieure, PTA-Praktikanten und PhiPs.)

Welche Leistungen bieten Apotheken, von denen viele Kund*innen/Patient*innen möglicherweise nicht wissen?

NU: Apotheken beraten Kunden/Patienten immer neutral und unabhängig zum jeweiligen Wirkstoff bzw. Medikament. Im Rahmen einer Selbstmedikation finden sie durch geschickte und gezielte Fragen das richtige Medikament für die jeweiligen Beschwerden. Bei Vorerkrankungen (z.B. bei Diabetes, Bluthochdruck usw.) berücksichtigen Sie die Therapie und tragen dazu bei Wechselwirkungen zu vermeiden. Der Apotheker kann als Heilberufler Beschwerdebilder im Rahmen der Selbstmedikation sehr gut einschätzen und den Patienten anleiten und wenn nötig auf einen Arztbesuch verweisen. Bei einer med. Therapie können pharmazeutische Fachkräfte begleiten und durch Aufklärung und Erklärung zur Adhärenz und zum Therapie-erfolg beitragen. Neu sind seit 2022 die pharmazeutischen Dienstleistungen: hier können sich Patienten kostenfrei z.B. zu Inhalatoren schulen lassen, eine ausführliche Medikationsanalyse durchführen oder eine Risikoerfassung zum Bluthochdruck durchführen lassen.

Zudem leisten Apotheken einen großen Beitrag zur Abwicklung der Arzneimittelversorgung: Apotheken erkennen Fehler in der Verordnung (auf den Rezepten: z.B., wenn fälschlicherweise Patronen statt Fertigpens oder Fertigspritzen aufgeschrieben worden sind, wenn Teilbarkeit oder Sondengängigkeit der Tabletten gefordert ist. Aktuell sind große Lieferschwierigkeiten: hier suchen Apotheker nach Alternativen und beraten Ärzte und Kunden über Überbrückungen und Möglichkeiten, damit die Versorgung/Therapie bestmöglich gewährleistet werden kann.

Wie wichtig ist die individuelle Beratung für die Kunden in der Apotheke?

Die Beratung ist sehr wichtig – die offene und vertrauliche Kommunikation ist das Herzstück: die Auswahl des richtigen Medikamentes (OTC oder Rezept), die Überprüfung, ob der Kunde zurechtkommt (Inhalatoren, Insulinpens – eine falsche Anwendung kann zu Dosierfehlern, Unter/Überdosierungen, ausbleibender Wirkung oder Nebenwirkungen führen). Man kann sehr individuell auf die Bedürfnisse eingehen: liegt eine Schluckstörung vor, ist das Medikament für ein Kind oder einen Erwachsenen, muss es teilbar sein, darf es gemörsert werden. Hier findet sich in fast allen Fällen eine individuelle Lösung.

Inwiefern können Apotheken die Kunden bei der Verwaltung der Medikation unterstützen? 

Die Medikationsanalyse ist ein (neues) Kernstück: hier wird jedes Medikament geprüft auf angemessene/s Dosierung und das Dosier-Intervall, ob sich die Medikamente vertragen oder nicht (Wechselwirkungen), ob die Medikamente geeignet sind (geriatrische Patienten, Kinder), ob im Falle von Unverträglichkeiten oder einem hohem Nebenwirkungspotenzial oder bei geringer Adhärenz Therapieoptionen oder eine Optimierung erfolgen kann. Das kann z.B. sein, dass bei guter Einstellung statt 2 oder 3 Einzel-Präparate auf ein Kombinationsmittel gewechselt wird und dadurch die totale Anzahl der Tabletten reduziert, werden kann. Man kann zudem prüfen, ob evtl. Kaskadenverordnungen vorliegen, das bedeutet, dass etwaige Nebenwirkungen durch ein Medikament durch ein weiteres therapiert werden. Die Apotheke prüft nicht nur, sondern sie kann ebenfalls Alternativen anbieten und gerne das Gespräch mit dem behandelnden Arzt suchen.

 

Gibt es Programme oder Dienstleistungen, die Patienten bei der Einhaltung ihrer Medikamentenpläne helfen?

Es gibt viele Apps, die an die Einnahme von Medikamenten erinnern, es gibt Dosetts für eine Woche, in die man die einzelnen Medikamente vorbereitet und so immer auf einen Blick sieht, ob die Medikamente eingenommen worden sind. Zudem bieten immer mehr Apotheken Blister-Schläuche an für Kunden (bislang oft nur für Heime oder Pflegeeinrichtungen). Das Prinzip ist analog dem PillPack – man hat nur noch eine Box, die einen Schlauchblister enthält, der die Medikamente vorsortiert nach Datum und Einnahmezeitpunkt enthält. In einer Fortbildung der Apothekerkammer NR wurde zuletzt über digital-vernetzte Arzneimittel-Packmittel (Flaschen, Dosen etc.) referiert. Hier erfasst ein Chip oder ein Sensor die Öffnung oder den Füllstand und so kann digital erfasst werden, ob die Medikamente eingenommen worden sind – möglich sind auch Signale bei „Nicht-Einnahme“.

Ein Projekt der Aachener Learning Community (RWTH Aachen), die App „Papp“, unterstützt Patienten bei der Erstellung und Aktualisierung von Medikationsplänen. Die Apotheke kann im Rahmen der Dienstleistung „Medikationsanalyse“ ebenfalls unterstützen und im Gespräch herausfinden, ob „Theorie und Praxis“ übereinstimmen oder ob sich Fehler oder Verwechslungen eingeschlichen haben. Auch Krankenkassen bieten Programme an, in die sich Patienten durch Ihren Arzt/Ärztin einschreiben lassen können – um den Therapieerfolg zu erhöhen und Folgeerkrankungen oder eine Progression möglichst zu vermeiden. Beispielsweise gibt es DMP (Disease Management Programme) für Diabetes mellitus oder Herzinsuffizienz.

Welche Rolle spielt Technologie mittlerweile in Apotheken? Welche Online-Services oder Apps können Kunden nutzen?

Neu ab 2024 ist das E-Rezept. Ärzte sind verpflichtet einen bestimmten Prozentsatz der Verschreibung als E-Rezept auszustellen. Momentan geht es nur für Arzneimittel, die nicht Medizinprodukte, Hilfsmittel sind und es können auch bislang keine Betäubungsmittel- oder T-Rezepte digital ausgestellt werden. Für die Patienten ist es eine Umstellung, da man nun kein rosa Rezept erhält, sondern die Daten können über die eGK, die e-Rezept-App oder über einen Ausdruck mit einem Data-Matrix Code (dem „Schlüssel“ zum eigenen E-Rezept) übertragen werden. Das ist praktisch, da man mit dem Data-Matrix-Code das E-Rezept sofort einlösen kann, der Postweg entfällt. Diesen Code auf dem Ausdruck kann man in den Apps der Apotheken (Online oder Vor-Ort) einscannen oder abfotografieren und somit kann die Apotheke die Verordnung direkt beliefern – man kann sich die Medikamente liefern lassen oder selbst abholen. Online ist zudem noch viel mehr möglich: man kann sich einen Termin für eine telepharmazeutische Beratung buchen und bequem von zuhause sich ausführlich zu allgemein oder zu bestimmten Themen beraten lassen: Anwendung von Geräten und Arzneimitteln (Blutzuckermessung oder Blutdruckmessungen, Insuline oder Fertigspritzen) oder eine Medikationsanalyse durchführen lassen.

Welche Maßnahmen können Apotheke ergreifen, um die Gesundheitsprävention in der Gemeinschaft zu fördern?

Prävention ist meiner Meinung nach ein wichtiges Thema und sollte viel mehr Beachtung in der Gesellschaft bekommen. Viele sogenannte Zivilisationserkrankungen können vermieden werden – zudem gibt es noch den Begriff Sekundär- bzw. Tertiärprävention, das bedeutet, dass man vermeidet, dass eine bestimmte Erkrankung fortschreitet oder Folgeerkrankungen auftreten. Ein Beispiel ist der Verlauf eines Diabetes mellitus Typ 2. Man kann durch viele Maßnahmen den körperlichen Zustand verbessern und in manchen Fällen einen T2DM sogar „heilen“. Anderenfalls entwickelt sich die Erkrankung fortschreitend mit einem immer höheren Medikamentenbedarf bis hin zu Insulinpflicht. Die Langzeitfolgen können Wundheilungsstörungen sein, Empfindungsstörungen (diabetische Polyneuropathie) oder Sehstörungen. Hier sehe ich großes Potenzial der Apotheken, wie die Glicemia-Studien des WIPIG in Bayern belegt haben, einen Beitrag zu leisten und die Patienten therapeutisch zu begleiten. Kampagnen zur Aufklärung, Aktionen zum Mitmachen und offene Kommunikation mit den Patienten können so viel dazu beitragen, dass Prävention gelingt. Außerdem denke ich, dass Vernetzung und Gemeinschaft wichtig sind: schaut man sich die Zahlen an, sind die meisten Erkrankungen keine Einzelfälle – ganz im Gegenteil, viele Menschen haben, je nach Lebens-Situation ähnliche Hürden und Schwierigkeiten. Erfahrungsaustausch untereinander und „Beistand“ durch Fachpersonal können eine starke Hilfe sein. Der mentale Aspekt kommt noch hinzu: Austausch kann helfen, dass die mentale Last verarbeitet werden kann.

Gibt es spezielle Programme zur Förderung von Impfungen oder Gesundheitsvorsorge?

Die Krankenkassen bieten diverse Programme an zur Gesundheitsförderung und honorieren diese oft auch durch Boni oder Beteiligung an den Kosten für Ernährungs- oder Sport-Kurse. Zum Ende der Corona-Pandemie hin, sind nun auch Impfungen durch qualifizierte Apotheker (Zusatzqualifikation nach Richtlinien der Berufskammern) möglich. Regional gibt es oft Impf-Kampagnen oder Initiativen der ansässigen Ärzte und Apotheker.

Wie arbeiten Apotheken mit anderen Gesundheitsdienstleistern zusammen, um eine umfassende Betreuung der Patienten zu gewährleisten?

Apotheker können mit prinzipiell mit Gesundheitsdienstleistern aus vielen verschiedenen Bereichen zusammenarbeiten. Zum Beispiel mit Ernährungsberatern oder speziell ausgebildeten „Nurses“ (z.B. Diabetes nurses, Hypertonie-Assistent*innen). Auch mit Ärzten können Apotheken kooperieren und über Erkrankungsbilder Therapieformen und Begleitbehandlungen aufklären und neutral beraten.

Welche Schritte können Apotheken in Bezug auf Nachhaltigkeit und Umweltschutz unternehmen?

Hier sind mehrere Ansätze denkbar: Beispiele wären die Einsparung von Papier durch das E-Rezept, Optimierung von Lieferprozessen, ein Beitrag zur Reduktion (Optimierung) von Arzneimitteln.

Gibt es Programme zur umweltfreundlichen Entsorgung von Medikamenten oder Verpackungen?

Es gibt Firmen, die Nahrungsergänzungsmittel in Glasflaschenanbieten, die in der Apotheke wiederaufgefüllt werden können. So kann man Müll reduzieren und die Verpackung immer wieder verwenden.

Wie sehen Sie die Zukunft der Apothekenbranche? Welche Entwicklungen erwarten Sie?

Eine große Entwicklung in diesem Jahr ist das E-Rezept. Europaweit sind wir in Deutschland, was die Digitalisierung angeht, leider etwas hinterher. Apotheken haben große Herausforderungen: Personalmangel, immer mehr Apotheken schließen, die Arbeitsbelastung der bestehenden Apotheken erhöht sich (bei bestehendem Personalmangel, wird die Belastung immer höher). Die bürokratischen Vorgaben sind sehr hoch. Die Zahlen sprechen leider dafür, dass dieser Trend auch dieses Jahr bestehen bleibt. Für (junge) Apotheker wird es immer weniger attraktiv, eine eigene Apotheke zu führen.

Mein Wunsch wäre es, wenn man die Aufgaben in der Apotheke neu denkt. Wenn man Prozesse weitmöglichst automatisiert und anderweitig Kapazitäten geschaffen werden. Pharmazeutisches personal (Apotheker und PTAs) ist hochqualifiziert – und auf dem Gesundheitsmarkt herrscht ebenfalls Fachkräftemangel. Schaut man in die Schweiz, sieht man beispielsweise, wie Ärzte durch Apotheker entlastet werden, indem die Erst-Triage durch einen Apotheker erfolgt und bei Bedarf ein Arzt telemedizinisch hinzugeschaltet wird. In Frankreich dürfen Apotheker chronischen Patienten, unter bestimmten Voraussetzungen, Folgerezepte ausstellen. Ist es nicht eine großartige Vorstellung, wenn dadurch begrenzte Ressourcen besser genutzt werden könnten? Auf jeden Fall muss auch in die pharmazeutische Welt Digitalisierung stattfinden und gerne auch ein Um- und Neu-Denken von Pharmazie. In Zukunft darf die Pharmakotherapie gerne individualisiert werden. Mit der Pharmako-Genetik ist es schon jetzt möglich, herauszufinden, ob das Medikament XY von Patient XY überhaupt verstoffwechselt werden kann, oder ob ein alternatives Mittel gewählt werden muss. Das ist gar nicht Zukunftsmusik: in Bereich der Psychopharmaka wird es schon angewendet. Antidepressiva können wirkungslos sein oder zu intensiv wirken, durch eine Analyse bestimmter Enzymaktivitäten lässt sich herausfinden, wie ein Medikament individuell dosiert werden muss, damit es optimal wirken kann. Auch Arzneiformen aus dem 3D-Drucker werden bereits in Modellstudien produziert: zum Beispiel für Dosisanpassungen für Kinder in der antiviralen Therapie.

Inwiefern sehen Sie Unterschiede zwischen den Leistungen einer stationären Apotheke und einer Onlineapotheke?

Einer der hauptsächlichen Unterschiede liegt in der Akutversorgung und in der Anfertigung von Rezepturen – das findet in den stationären Apotheken statt. Das ist essenziell – an erster Stelle steht der Patient und die Versorgung.

Dennoch steigt die Arbeitslast in den stationären Apotheken durch schließende Apotheken. Online-Apotheken können Patienten ebenso mit Medikamenten zuverlässig versorgen und beraten. Die Aktivierungsschwelle bzw. die Hemmschwelle einer Online-Beratung ist natürlich höher, man muss selbst zum Hörer greifen oder einen Termin buchen oder eine E-Mail schreiben. Dagegen findet die Beratung vor Ort augenblicklich statt, sobald ein Rezept überreicht wird. Da kann man sich den Fragen der Apotheker/PTAs nicht entziehen. Für Patienten mit chronischen Erkrankungen, die schon jahrelang ihre Medikation einnehmen, sind Online-Apotheken eine Alternative: man spart sich den Weg in die Apotheke und bekommt die Medikamente kostenfrei zuverlässig und diskret nachhause geliefert. Bei Rückfragen kommt das pharmazeutische Team einer Versandapotheken in jedem Fall auch auf den Patienten zu.

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Dr. Nina Unger: Apothekerin seit 10 Jahren, Netzwerk-Managerin apo.com, PTA-Schullehrerin, freiberufliche Dozentin an der FIA (Freiburger Internationale Akademie) und Referentin.