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Die Angst, die uns als MS Patienten begleitet – Dipl.-Psych.Till Niewisch

Die Angst, die uns als MS Patienten begleitet – Dipl.-Psych.Till Niewisch

Ich bin Till Niewisch. Ich bin psychologischer Psychotherapeut und seit mehr als 30 Jahren niedergelassen in Hamburg.

Ich habe von Anfang an mit chronisch Kranken gearbeitet, bisher geschätzt 700 Patienten. Etwa ein Drittel davon waren MS- Betroffene, die übrigen litten vor allem an CED und Krebserkrankungen. Erstmal erscheint diese Zahl nicht besonders hoch, aber da Behandlungen bis zu hundert Stunden umfassen, verbergen sich hinter diesen Ziffern zehntausende von Einzelbegegnungen.

Und vorausgeschickt sei: Psychotherapie ist eine sehr diskrete Angelegenheit, deswegen bleibe ich in den Schilderungen zurückhaltend. Mein Alltag ist das Zwiegespräch, der Dialog.

 

Was ist überhaupt Angst?

 

Angst ist eine von 44 unterscheidbaren Emotionen des Menschen, die der animalischen Seite in uns am nächsten ist. Angst ist die existenziellste und belastendste von allen Emotionen. Man kann sie nicht weg reden. Angst ist in ihren Auswirkungen komplett biologisch, wir empfinden sie zentral. Am unangenehmsten, vor allem wenn sie sich zur Panik steigert, erleben wir sie in unseren vitalsten Zentren, zwischen Hals, Herz und Oberbauch.

Angst ist die einzige Emotion, die den Betroffenen töten kann. Man kann buchstäblich vor Angst durchdrehen oder sterben. Für unsere Vorfahren war Angst ein Warnsignal, auf das sie je nachdem mit a) Flucht, b) Kampf oder c) Duldungsstarre reagieren konnten. Angst war also biologisch gesehen ein wichtiger, positiver, emotionaler Schutz. Das gilt noch heute. Wir kennen Angst auch in Beziehungen zu anderen Menschen. Dann kann sie dem Schutz vor Schädigung oder Bedrohung dienen. Das mag eine Bande von kettenschwingenden Skinheads sein, es kann aber auch der eigene Partner sein. Angst gibt es sogar ohne Gegenüber, wenn wir uns fragen: Habe ich mich daneben benommen? Habe ich etwas Falsches gesagt? Oh Gott, wenn das rauskommt! Das ist die Angst vor eigenen strafenden, rächenden inneren Instanzen, meist mit Zweifeln und Grübeln verbunden. Es ist die Angst bei der Verarbeitung.

 

Angst kann also hilfreich sein und uns schützen, vor allem in ihrer akuten Form, wenn sie als Weckruf dient. Wenn sie sich allerdings dauerhaft einrichtet und zur Leitlinie unseres Verhaltens wird, wird es problematisch. Angst führt dann zu Rückzug und genereller Ängstlichkeit. Sie schadet uns. Angst ist vielschichtig und hat viele Gesichter. Mit ihr zu leben, ist schon ein sportlicher Anspruch.

 

Was selbstverständlich Angst macht, ist die Diagnose einer chronischen Erkrankung wie multipler Sklerose. Und erst recht das Leben damit. Was uns dabei begegnet, ist massiver negativer Stress, bei dem sich die Impulse Kampf, Flucht oder Duldungsstarre gegenseitig behindern und lähmen. Das Vertrauen in die Folgerichtigkeit der Welt ist erst mal dahin. Das ist ein für mich sehr wichtiger Gedanke, da wir alle – unterschiedslos – Vertrauen in die Richtigkeit der Welt brauchen. Wir sind nämlich nur für eine ziemlich kleine Welt gemacht, und wir brauchen Vertrauen darauf, dass sie funktioniert, sowohl in unserem überschaubaren Bereich als auch anderen Orts. Dass wir Resonanz erzeugen können und dass dann etwas zurückkommt, was wir verstehen. Nach der Diagnose einer chronischen Erkrankung gelten diese bisherigen Sicherheiten nicht mehr. Was sonst immer funktioniert hat, funktioniert nicht länger. An seine Stelle tritt die Kernüberzeugung: Ich bin nicht mehr intakt.

 

Jeder weiß es, ich sage es aber noch einmal: Mit der Diagnose einer chronischen Erkrankung beginnt ein neuer Lebensabschnitt: Ab jetzt ist man im Dauerzustand angespannt und alarmiert, vergleichbar mit der Wirkung terroristischer Anschläge, die auch eine generelle Angst erzeugen. Unerbittliche Fragen treten auf: Wie werde ich damit fertig, nicht mehr intakt zu sein? Bis an mein Lebensende? Wie werde ich mich körperlich verändern? Wie sehe ich dann aus? Was ist mit Geld und Versorgung? Gibt es noch Sicherheit?

Typische Sorgen, die ich in den ersten Gesprächen nach einer Diagnose höre, sind: „Auf einmal erscheint mir alles unberechenbar!“ „Ich habe mich immer stark gesehen. Jetzt bin ich mit einer absolut fremden Schwäche konfrontiert.“ „Eigentlich möchte ich nur aufgeben, aber das darf ich nicht.“ „Habe ich mein Leben noch in der Hand?“ „Werde ich jetzt abhängig von Maschinen, Medizin, fremden Menschen?“ „Wem kann ich, wem soll ich denn eigentlich jetzt noch vertrauen?“ Das ist so, das sollte man nicht verniedlichen, es ist schwer.

Was machen Betroffene, wenn sie aus der Balance gekommen sind, wie das Bild zeigt? Beim Versuch der Angstbewältigung stützt man sich zunächst auf die aus der eigenen Alltagserfahrung gewonnenen Bordmittel: Arzt, Internet-Recherche, Foren, Gespräche mit der Familie, mit Freunden, mit anderen Patienten. Aber auch Rückzug, Beruhigungstabletten, Ablenkung durch Reisen, die Parkbank, ein Tagebuch. Wie schon gesagt, wir sind nur für eine überschaubare Welt, in der wir uns auskennen, gemacht. Die Möglichkeiten der grenzenlosen Information überfordern uns völlig, im Denken und emotional. Die Informationsgesellschaft hat die Beschränkungen von Ort und Zeit für uns eingerissen, sie setzt sich über die Grenzen unseres Körpers hinweg. Emotional und kognitiv sind wir kaum in der Lage, zu verarbeiten, was wir alles wissen, sehen und erfahren.

Was bleibt, ist ein Gefühl der Ohnmacht. Vor diesem Hintergrund kann der Einsatz der oben genannten Bordmittel hilfreich sein, häufig aber wird er als nicht ausreichend erlebt. Die Krankheit nämlich räumt mit allen Illusionen auf, schlägt unerbittlich mit dem nächsten Schub zu. Alles hat wieder mal nichts genützt. Viele meiner Patienten standen bei Therapiebeginn genau an diesem Punkt. Was hat sich als hilfreich erwiesen, wie können Krankheitsbewältigung und Umgang mit Angst besser funktionieren?

 

MS ist ein Drama. Das muss in voller Wucht ausgehalten werden, statt sich zu verstecken, sich zu betäuben oder zu leugnen. Zur Bewältigung von Krankheit aber ist eine Entdramatisierung notwendig: Geschwindigkeit herausnehmen, Druck abbauen und im eigenen Rhythmus wieder Tritt fassen.

Lassen Sie mich hier zugespitzt 5 vorausstellen: Mein Konzept ist ein Konzept des Kampfes, und zwar in drei Schritten. Ich beginne mit einem Beispiel: Patient B. kommt mit frischer Diagnose, ein relativ später Beginn der Erkrankung, ein kräftiger Mittvierziger, dem bisher alles gelungen ist. Selbständig als Handwerker, bei der Kammer als Ausbilder geschätzt. Herr B. ist immer sportlich gewesen, gepflegt, kräftig und energisch. Er wirkt bedrückt, fassungslos, unkonzentriert, versteht sich selbst nicht mehr. Die Möglichkeit, den Betrieb weiter zu führen, ist nicht mehr gegeben. Da seine Feinmotorik versagt, kann er auch nicht mehr als Anleiter tätig sein, es zeichnet sich eine Berufsunfähigkeit ab, die erst einmal durch nichts abgesichert erscheint. Angst vor der Zukunft erscheint fast körperlich fassbar.

In den ersten Sitzungen geht es zunächst darum, Ruhe ins Spiel zu bringen und eine gewisse Distanz herzustellen. Man muss nicht nur reden, man muss sprechen. Langsam gelingt es, eine unaufgeregte, fortgesetzte Kommunikation herzustellen. Es kommt zum Nachdenken, zur Entwirrung. Mit diesem Patienten ist es bis heute – nach zwei Jahren Behandlung – immer noch sehr schwer, ein ruhiges und beruhigendes Gespräch zu führen; die Fassungslosigkeit und die Angst sind auch heute noch greifbar.

 

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